Dienstag, September 12, 2006

Das Geheimnis des Judenknaben von Krakau

Es war im Jahre 1918.
Der Erste Weltkrieg hatte meine Eltern, wie so viele andere Polen, um ihr ganzes Vermögen gebracht. Ich war deshalb als Student gezwungen, irgendeine bezahlte Beschäftigung zu suchen. Ich hätte sonst nicht weiterstudieren können.
Jemand riet mir, mich einer jüdischen Dame vorzustellen, die einen Privatlehrer für ihren zwölfjährigen Sohn Daniel suche, der sich auf das zweite Gymnasium vorbereiten müsse.
Ich war indes kein Judenfreund. Ich sollte erst später erfahren, daß es viele gute, anständige und sogar wahrhaft fromme Juden gibt.

Die Geschichte des Propheten Jonas

Die jüdische Dame vertraute mir ihren Knaben an, und ich nahm mir vor, meine Pflicht so treu wie möglich zu erfüllen, denn ich hatte von meinem Vater gelernt, alles, was ich tun mußte, gut zu tun. Manchmal kam Daniel zu mir, manchmal fand der Unterricht in seinem Hause statt.
Eines Tages traf ich meinen Schüler in seinem Zimmer mit einem jüdischen Gebetbuche in der Hand.
Ich durchblätterte das Buch. Es war hebräisch geschrieben. Unter jedem Satze aber stand die deutsche Übersetzung. Aus dieser erkannte ich, daß es sich um die biblische Erzählung des Propheten Jonas handle, doch war dieselbe, meiner Ansicht nach, ganz falsch ausgelegt. Etwas unwillig darüber, gab ich Daniel das Buch zurück, indem ich murmelte:
"Das ist ja Betrug!"
Der Junge war sehr erstaunt über meine Bemerkung und frug sogleich:
Warum ist das Betrug? Ist etwa der jüdische Gottesdienst nicht gut? Und wie steht es denn mit dem katholischen Gottesdienst?"
Er überschüttete mich förmlich mit Fragen über die katholische Religion. Vor allem interessierte ihn die Person Jesu Christi.
Durch seine vielen Fragen ermüdet, antwortete ich schließlich beinahe ärgerlich:
"Was kümmert dich denn alles das? Du wirst doch nie ein Christ werden. Studiere lieber, denn dazu komme ich hierher. Du wirst sonst dein Examen nicht bestehen und deine Mutter wird böse auf mich sein!"
Betroffen schwieg der Knabe einige Minuten. Doch es dauerte nicht lange, so bestürmte er mich mit neuen Fragen und ruhte nicht, bis ich ihm das Versprechen gab, ihn einmal in unsere Kathedrale mitzunehmen.
Ich bestimmte für diesen Kirchenbesuch den 7. Mai 1918, den Festtag unseres polnischen Bischofes St. Stanislaus.

Ein Wunder der Gnade

Der Knabe holte mich am abgemachten Tage in meiner Wohnung ab.
Fröhlich plaudernd spazierten wir zum Warvelhügel, auf welchem sich die Kathedrale erhebt. Während des Aufstieges zur Anhöhe machte ich meinen Schüler auf verschiedene Denkmäler aufmerksam und erklärte sie ihm. Im selben Augenblick, als wir die Kathedrale betraten, erklang ein silberhelles Glöcklein. Wahrscheinlich - so dachte ich - wird auf einem der vielen Altäre soeben die heilige Wandlung gefeiert. Ich achtete aber nicht weiter darauf und blieb nach einigen Schritten stehen, überlegend, was ich meinem Schüler zuerst zeigen wolle.
Als ich mich dann nach ihm umwandte, sah ich etwas Merkwürdiges: Daniel, der Judenknabe, kniete auf dem Boden! Sein Gesicht war blaß, seine Augen waren unverwandt auf einen einzigen Punkt gerichtet.
Erschrocken faßte ich ihn an der Schulter und frug: "Daniel, bist du krank?"
Er gab mir aber keine Antwort. Er schien der Welt vollkommen entrückt zu sein.
Sein Antlitz leuchtete in überirdischer Schönheit und seine Lippen flüsterten etwas, als ob er mit einem Unsichtbaren spräche.
Ich näherte mein Ohr seinem Munde, um einige Sätze aufzufangen, aber ich konnte nichts verstehen und weiß heute noch nicht, welche Sprache er damals redete.
Man kann sich meine Verlegenheit vorstellen! Umsomehr, da das eigenartige Benehmen des Buben mehreren Frauen auffiel und eine derselben halblaut bemerkte: "Er ist ein Jude!"
So vergingen einige Minuten. Währenddessen schritt ein Priester an uns vorbei, der in seinen Händen feierlich die hl. Wegzehrung zu einem Kranken trug. Daniel verfolgte, noch immer kniend, den Priester unverwandt mit entzückten Blicken.
Nachdem der Geistliche die Kirche mit dem hochwürdigsten Gute verlassen hatte, stand Daniel ruhig auf und ging, ohne sich um mich zu kümmern, geradewegs zur Seitenkapelle des Stephan Bathory, wo das Allerheiligste aufbewahrt wird. Dabei strahlte sein Antlitz so daß er mich unwillkürlich an ein Bild des hl. Stanislaus Kostka erinnerte. Dort kniete er beim Gitter erneut nieder und betete länger als eine Viertelstunde, die Augen unausgesetzt, wie verklärt, auf den Tabernakel gerichtet.
Ich wagte nicht, ihn zu stören, sondern wartete, bis er zu sich kommen würde. Zuerst beunruhigte mich der Gedanke, ob Daniel vielleicht plötzlich das Opfer einer Sinnesverwirrung sei. Dann aber gewann ich allmählich die feste Überzeugung, Gott der Herr wirke hier ein Wunder der Gnade.

Auf dem Heimweg

Endlich erhob sich Daniel, gab mir ein Zeichen, daß er heimgehen wolle und verließ die Kathedrale sehr gesammelt. Er hatte von allen Kunstwerken und Schönheiten des Domes nichts gesehen, schien aber dennoch voll und ganz befriedigt zu sein.
Auf dem Heimweg suchte ich durch vorsichtiges Fragen zu erfahren, was denn geschehen sei.
Daniel antwortete jedoch ausweichend, begann aber immer wieder aufs neue vom lieben Heiland zu sprechen. Unaufhörlich und mit ungeheurem Nachdruck versicherte er:

"Der Herr Jesus ist sehr schön und gut!"

Sooft er dies sagte, flog eine leichte Röte über sein Antlitz - ein Widerschein inniger Liebe zum göttlichen Erlöser, die in seinem Herzen glühte.
Ich gestehe, daß dieses Erlebnis mich gewaltig packte und meinen damals ziemlich schwachen katholischen Glauben mächtig aufrüttelte. Trotzdem vergaß ich das Vorgefallene bald wieder und dachte, vilelleicht sei alles lediglich eine Einbildung Daniels oder meinerseits gewesen.

Daniel sagt seinen Tod voraus

Ich fuhr fort, wie früher, meinen Schüler zu unterrichten, ohne mein Verhalten ihm gegenüber irgendwie zu ändern. Da erklärte mir Daniel eines Tages offen, daß er katholisch werden möchte.
Eindringlicher als je suchte er die katholischen Glaubenswahrheiten kennenzulernen und stellte mir eine ganze Reihe von Fragen. Zuletzt bat er mich, ich solle ihn taufen.
Da wurde ich ernstlich böse, spottete über sein "kindisches" Verlangen und ermahnte ihn, zu studieren, denn die Zeit der Prüfung nähere sich, und seine Kenntnisse seien noch sehr mangelhaft.
Daniel belieb ruhig und entgegnete mit großer Bestimmtheit, daß er gar keine Prüfungen mehr zu machen habe, da er am 8. September sterben werde. Vorher müsse er aber noch unbedingt die hl. Taufe empfangen.
Spöttisch lachend gab ich zur Antwort:
"Lieber Junge, du wirst länger leben als ich. Und was die Taufe anbelangt, so kannst du ja deine Mutter fragen, was sie dazu meint!"
Ich ließ nicht mehr mit mir reden. Doch alle meine Bemühungen, Daniel im Latein und in andern Fächern rascher voranzubringen, waren vergeblich.
Gegen Ende des Schuljahres erklärte ich daher seiner Mutter ohne Umschweife, daß ich ihn nicht ins Examen schicken werde, daß er auf alle Fälle erst nach den Ferien zur Prüfung fähig sei.
Dann begannen die Sommerferien, in denen ich Daniel nicht mehr sah.
Am 7. September aber, als ich an alles andere als an meinen früheren Schüler dachte, suchte mich dessen jüdische Mutter auf.
Ich meinte, sie wolle mich bitten, den Privatunterricht mit Daniel wieder zu beginnen. Ich empfing sie wenig freundlich. Ja, ich rückte gleich heraus, ich sei nicht geneigt, mich mit ihrem Jungen neuerdings abzuplagen.
Da sagte sie mir, sie komme wegen etwas ganz anderem. Daniel sei krank und habe inniges Verlangen geäußert, mich unbedingt heute noch zu sehen.
In diesem Augenblick fielen mir die Worte des Knaben wieder ein:
"Ich werde am 8. September sterben!"
Sogleich versprach ich der Mutter, seinem Wunsche noch an diesem Abend zu entsprechen.
Ich traf Daniel zwar im Bette an, fand aber nichts Beunruhigendes in seinem Zustande. Daher glaubte ich nicht an seinen baldigen Tod, zumal seine Mutter mir erklärte, der Arzt messe diesem momentanen Unwohlsein keine Bedeutung bei.
Als wir allein waren, schaute mich Daniel mit ernsten Blicken an und sagte, daß ich ihn jetzt unbedingt taufen müsse, weil sein Ende nahe sei. Gleichzeitig versprach er mir, wenn ich seinen Willen tue, werde er mir ein Geheimnis mitteilen.
Ich zögerte und überlegte, was ich machen solle. Daniel flehte mich an.
Ich war immer noch unentschlossen. Aber die Kraft, mit welcher der Junge in mich drang, besiegte schließlich meinen Widerstand. Ich erklärtem mich bereit, ihm die Nottaufe zu spenden unter der Bedingung, daß er sich später in der Kirche zum Nachholen der feierlichen Zeremonien anmelde.
Auch fügte ich hinzu, daß ich mich vor dem Zorne seiner Mutter fürchte, denn sie hatte ja keine Ahnung von seiner katholischen Gesinnung. Daniel versuchte, mir meine Bedenken zu nehmen, indem er versicherte, er werde der Mutter nichts erzählen.
"Außerdem", so meinte er lächelnd, "werde ich ja morgen für immer zu reden aufhören!"
Dann sprang er plötzlich aus dem Bette, ergriff eine volle Wasserflasche und drückte sie mir in die Hand.
Dabei wiederholte er die Bitte, die wie ein von Gott eingegebener Befehl klang:
"Taufen Sie mich! Taufen Sie mich!"
Da goß ich zitternd das Wasser über Daniels Haupt mit den Worten:
"Daniel, ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!"
Jetzt war Daniel überglücklich und begann nun, ohne eine diesbezügliche Frage abzuwarten, mir zu erzählen, daß ihm damals in der Kathedrale Jesus erschienen sei. Der liebe Heiland sei überaus schön, freundlich und unbeschreiblich gütig gewesen und habe ihm den Tag seines Todes vorausgesagt mit der Aufforderung, sich vorher taufen zu lassen.
Ich hörte Daniel aufmerksam zu, konnte aber noch immer nicht glauben, daß er am nächsten Tage sterben werde, denn er hatte gar nichts von einem Sterbenden an sich, weder in seinen Bewegungen, noch in seiner Stimme. Beim Abschied versprach ich, anderntags wiederzukommen.
Am 8. September 1918 - Fest Mriä Geburt - abends 5 Uhr starb Daniel.
Als ich am 8. September gegen 5 Uhr abends wiederum das jüdische Haus betrat, traf ich die Mutter in heller Verzweiflung.
Der Arzt war soeben bei ihrem einzigen Kinde gewesen. Er vermochte zwar keine Krankheit festzustellen, aber dessen Puls ging so schwach, daß keine Hoffnung auf Genesung mehr vorhanden war.
Daniel lag friedlich da. Seine Angesicht verriet sein inneres Glück. Er freute sich über mein Kommen und sagte fröhlich:
"Sehen Sie, ich werde jetzt sogleich sterben!"
"Wenn du stirbst", antwortete ich, "wird dich der Heiland unverzüglich zu sich in den Himmel nehmen!"
Bei diesen Worten neigte Daniel sein Haupt zur Seite und hauchte lächelnd seine Seele aus... Auf dem Totenbette glich er wahrhaft einem Heiligen.

(Der Privatlehrer, der so ergreifend dieses wunderbare eucharistische Erlebnis seines Schülers schilderte, änderte sofort nach dessen Tode sein gottloses Leben, wurde ein eifriger Katholik und später sogar ein ausgezeichneter Priester. O unerforschliche Allmacht, Größe und Güte Gottes!)
(Quelle: Jugend-Sendbote des göttlichen Herzens Jesu, November 1929, Feldkirch)

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