Wie alle männlichen Glieder der jüdischen Familie Ratisbonne wurde er für das Bankgeschäft bestimmt. Die ersten Lehrjahre brachte er in der Bank seines Vaters zu, dann kam er 1818 nach Paris in das gleichartige große Bankgeschäft seines nahen Verwandten Fould. Der auf das Ideale gerichtete Geist des jungen Mannes wußte aber seinem Beruf als Bankier keinen rechten Geschmack abzugewinnen, er gab ihn auf und widmete sich dem Jus-Studium, anfangs in Paris, dann in Straßburg.
Weltanschaulich war Theodor Ratisbonne in einem sehr liberalen Judentum beheimatet, von dem er sich aber immer mehr distanzierte. In einer autobiographischen Skizze "Mes Souvenirs" schreibt er selbst: "In dem Maße, als mein Verstand reifte, warf ich das Joch der mosaischen Gesetze ab... Bald machte mich der Name Jude sogar erröten, und ich zog mich aus ihren Versammlungen zurück. Mein Vater, obwohl Präsident des (jüdischen) Konsistoriums in Straßburg, ging selbst nicht hin, außer wenn er durch irgendeine Feierlichkeit dazu verpflichtet war... Ich lebte schließlich ohne Religion und suchte weder das Gute noch das Böse. Aber ich sagte mir oft: Ich bin jetzt 20 Jahre alt und weiß nicht einmal, weshalb ich auf der Welt bin. Was ist doch das Leben und zu welchem Zweck bin ich auf diese Erde gesetzt worden? Diese Sinnfragen, die tausend andere wachriefen und tausend Theorien erzeugten, bemächtigten sich meiner Seele und beherrschten sie bald ganz ausschließlich. Ich meinte, es müßte doch irgendeine Schule geben, in der mir das Geheimnis der gegenwärtigen und zukünftigen Dinge enthüllt werden könnte... Aber keine Stimme antwortete auf meine Fragen, auf meine Bedürfnisse. Ich las Rousseau und verschlang ohne Unterschied alle Ansichten und Paradoxien dieses verführerischen Pädagogen... Ich meinte, die Lösung meiner Zweifel in der Philosophie zu finden, und las Locke, Voltaire, Volnay usw.... Durch mein Grübeln über das Gute und Böse, über die Macht und Ohnmacht Gottes und über das Problem des Weltalls war ich, wenn nicht Gottesleugner, so doch im höchsten Maß Zweifler geworden - Skeptiker... Um das Maß meines Unglücks voll zu machen, nahm ich meine Zuflucht zu Männer, die für gelehrt galten und mich in meiner ausdörrenden Ungläubigkeit noch bestärkten. Sie gaben mir recht und vermehrten durch ihren Sarkasmus die Abneigung und die Vorurteile, die man mir seit meiner Kindheit gegen das Chrisentum eingeflößt hatte. Ich erwähne dies alles nur, um zu zeigen, in welchen Abgrund ich gefallen war. In einem jener Augenblicke tiefsten Schmerzes rief ich in der Bitterkeit meiner Seele aus: "O Gott, wenn du wirklich existieren solltest, laß mich die Wahrheit erkennen, und im voraus schwör' ich dir, ihr mein Leben zu weihen!"
In dieser seelischen Zerrissenheit geriet Theodor Ratisbonne im Jahre 1823 durch den ihm bis dahin unbekannt gewesenen jüdischen Jus-Studenten Julius Lewel unter den Einfluß des Straßburger Philosophie-Professors E.M. Bautain, der selber zuerst stark vom Rationalismus befallen gewesen war, dann aber 1819-20 unter der Einwirkung Kants und durch das eifrige Lesen der Heiligen Schrift eine schroffe Wendung vom Rationalismus zum christlichen Offenbarungsglauben vollzogen hatte, wie er in seiner 1827 in Straßburg herausgebrachten Bekenntnisschrift "La morale de l'Evangile à la morale des philosophes" aufgezeigt hat. Den katholischen Theologen ist dieser E.M. Bautain (+ 1867) für gewöhnlich fast nur als Hauptvertreter des sogenannten "Fideismus" bekannt, der die Quelle unserer religösen und moralischen Erkenntnisse einzig und allein der göttlichen Offenbarung sieht und der Vernunft als solcher dort gar nichts zutraut, wo es um die Erkenntnis der Existenz Gottes und der Tatsächlichkeit und Glaubwürdigkeit der göttlichen Offenbarung geht. Daß dieser Professor Bautain damals aber ungemein segensreich auf skeptische ungläubige junge Akademiker, vor allem auch solche aus dem Judentum, eingewirkt und sie zum Glauben gebracht hat, ist vielfach unseren Theologen, erst recht unseren Gläubigen, unbekannt.
Theodor Ratisbonne wurde jedenfalls tief beeindruckt von einem privaten Seminar, das er zusammen mit einem katholischen Iren, einem orthodoxen Russen und dem Juden Julius Lewel bei Professor Bautain im Hause des heiligmäßigen Fräuleins Louise Humann in der Straßburger Rue de la Toussaint mitmachen konnte. Dieses Fräulein Humann war die Schwester eines Freundes des Mainzer Bischofs Colmar; sie war nach dem Tod dieses aus Straßburg stammenden großen Bischofs im Jahre 1818 wieder in ihre Heimat Straßburg zurückgekehrt. In ihrer Wohnung fand nun dieses Philosophie-Seminar Bautains statt, von dem Theodor Ratisbonne in seinen Erinnerungen geschrieben hat: "Mit Entzücken nahmen wir das einfache und ungemein belebende Wort unseres Lehrers Bautain auf, das aus der Fülle seines Herzens sprudelte. Es war nicht ein Lehren wie das irgendeines anderen Professors, es war eine wahrhafte Einweihung in die Mysterien des Menschen und der Natur. Wir hörten mit Überraschung und Bewunderung die Enthüllungen jener allgemeinen Wahrheit, die dieser Lehrer aus der lebendigen Quelle der Heiligen Schrift schöpfte, aus der er selbst Stärke, Kraft und Macht gewonnen hatte. Diese Vorträge bewirkten mehr als Erleuchtung meines Verstandes, sie erwärmten mein Herz, erweckten meinen Willen und machten das Eis schmelzen, das sich um meine Seele gelagert hatte. Der Einfluß des Christentums umgab mich allmählich von allen Seiten und durchdrang mich, ohne daß ich es merkte."
Der Einfluß dieses Kreises von Freunden, der da in der Wohnung ihrer Mutter, wie sie Fräulein Humann (+ 1836) liebevoll nannten, regelmäßig tagte und im Geist der Urkirche zu leben suchte, muß für den 25-jährigen Juden Theodor Ratisbonne damals tief gegangen sein. Schließlich war es so weit, daß er schreiben konnte: "Meine Seele war für Jesus Christus gewonnen, und ich sehnte mich nach der Taufe, deren Notwendigkeit mir klar geworden war." Aufschlußreich ist in dieser seelischen Entwicklung hin zum Glauben an Christus, wie ihm nach seinem Geständnis auch die Bedeutung der Marienverehrung immer mehr aufging. Er schreibt davon in seinen Erinnerungen: "Je mehr man sich mit Jesus Christus verbindet, umso mehr erfährt man auch das ganz große Bedürfnis, auch seine Mutter zu ehren und zu preisen; es ist ja die Mutterschaft Mariens, die uns von Jesus eine vollkommene Kenntnis schenkt, sie ist der lebendige Ort, der uns in Beziehung zu Christus bringt; durch sie ist ja Gott ein Menschenkind geworden, durch sie wird der Mensch ein Gotteskind; die Marienverehrung ist, wenn sie tief und sinnvoll durchgeführt wird, ein Indiz des wahren Glaubens, ist Vorbedingung für unseren geistlichen Fortschritt und ist gleichsam ein Kanal des Gebetes und der Gnade, das Geheimnis süßester und fruchtreicher Tröstungen."
Der Taufe stand noch eine große Schwierigkeit entgegen; Theodor Ratisbonne berichtet darüber so in seinen Erinnerungen: "Die göttliche Vorsehung hatte mich in eine schwierige Lage versetzt, die ein zurückhaltendes, vorsichtiges Vorgehen von mir verlangte. Mein Vater hatte nämlich gewünscht, daß ich die Leitung der Schulen übernehme, die er - als Vorsitzender des jüdischen Konsistoriums - 1825 für jüdische Kinder gegründet hatte; die Not der aus den Ostgebieten und aus Nord-Afrika zugewanderten armen, meist ungebildeten Juden und ihrer Kinder war groß. Es hatte meinem erwachenden christlichen Glauben und meiner alten Eigenliebe große Opfer gekostet, diese Aufgabe zu übernehmen, zumal sie mich mit allem, was die Synagoge an unedlen Elementen in sich schloß, wieder in Verbindung bringen mußte. Aber die Aufmunterung meines Lehrers Bautain, die Aussicht auf das Gute, das ich dabei vielleicht wirken könnte, und das Bedürfnis, das Licht des wahren Glaubens, das in mir aufzuleuchten begonnen hatte, weiter zu verbreiten, bestimmte mich, dieses wohltätige Werk zu übernehmen, dem ich mich nun ganz hingab. Meine Jus-Studien waren beendet, und ich hatte bereits eine Advokatur am Gerichtshof in Colmar erhalten. Da ich mich aber dem Jus-Studium nur aus Ruhmsucht und Ehrgeiz gewidmet hatte, glaubte ich dem Advokatenstand ebenso entsagen zu müssen, wie ich dem Beruf eines Bankiers entsagt hatte. Ich beschäftigte mich damals mit den Naturwissenschaften und mit der Medizin, aber eigentlich nur deshalb, um weiter an der Seite meines geliebten Professors Bautain bleiben zu können. Zwei jüdische Freunde taten dasselbe. Die gemeinsame Beschäftigung und Zielsetzung schmiedete uns sehr zusammen. Unsere Absicht ging dahin, das Medizinstudium richtig zum Abschluß zu bringen, um dann eines Tages die ärztliche Kunst unentgeltlich auszuüben und die Summe unserer Kentnisse gemeinschaftlich nur für das Wohl der Armen zu investieren. Wir drei hatten das große Verlangen, Gutes zu tun und uns dazu einem wohltätigen Werk zu widmen. Aber keiner von uns dreien ahnte den höheren Beruf, für den uns Gott ohne unser Wissen vorbereitete."
Vorerst also widmete sich Theodor Ratisbonne zusammen mit seinen beiden jüdischen Freunden Julius Lewel und Isidor Goschler mit großem Erfolg der Leitung der jüdischen Schulen in Straßburg. Da Theodor Ratisbonne aber mit seinen beiden Freunden immer mehr christlichen Geist in seine schulische Tätigkeit einfließen ließ, schöpfte man in jüdischen Kreisen bald Verdacht, daß hier manches im Sinn des Judentums nicht mehr in Ordnung sei. So trennten sich zuerst die beiden Freunde von dem Unternehmen und entschlossen sich zur Konversion. Schließlich tat auch Theodor Ratisbonne den entscheidenden Schritt und ließ sich am Karsamstag, dem 14. April 1827, taufen.
Er selbst schildert das große Ereignis so: "Ich ging vom Judentum zum Christentum über, von der Synagoge zur Kirche, von Mose zu Jesus Christus, vom Tod zum Leben. Ja, es war das wahre Leben, das mich nun durchdrang, als das Taufwasser über meine Stirne floß. Ich empfand ein unaussprechliches Gefühl von Freude, Freiheit, Würde und Dankbarkeit; die ganze Natur schien mich anzulächeln und ein neues Licht schien die Welt zu erleuchten; ich sah alle Dinge von einem ganz neuen Gesichtspunkt aus, und mein Glück, nun der großen christlichen Familie angehören zu dürfen, war so groß, daß ich mich nur ganz schwer zurückhalten konnte, um es nicht allen, denen ich nach der Taufe begegnete, laut zu verkünden."
Dem Vater, der vom getanen Schritt seines Sohnes noch nichts Sicheres wußte, sondern nur vermutete und ihn eines Tages fragte, ob er etwa Christ geworden sei, gestand Theodor Ratisbonne: "Ja, Vater, ich bin Christ, und mein Glaube ist es, der mich nun dazu drängt, allen Annehmlichkeiten des bisherigen Lebens zu entsagen, um mich ganz unter dem Schutz Mariens der Wiedergeburt meiner jüdischen Brüder zu widmen."
Er wandte sich nun dem Theologiestudium zu, um Priester zu werden. Bischof J.F. Lepape de Trévern (+1842) nahm ihn und seine beiden Freunde Julius Lewel und Isidor Goschler in das zu Molsheim errichtete Priesterseminar auf, nachdem sie vorher noch unter Leitung von Professor Bautain, der 1826 ebenfalls Priester geworden war, noch Schriftexegese, Kirchengeschichte und Patrologie sowie die anderen theologischen Fächer studiert hatten. Am 18. Dezember 1830 wurde Theodor Ratisbonne zum Priester geweiht.
Er wirkte dann zuerst für kurze Zeit als Vikar an der Kathedrale von Straßburg. Schon bald aber übertrug ihm und seinen beiden Freunden der Bischof die Leitung und den Unterricht im Knabenseminar. "Wir arbeiteten mit Eifer inmitten zahlloser duch Eifersucht hervorgerufener Schwierigkeiten. Der Segen des Herrn aber blieb nicht aus. Das Haus gedieh in jeder Hinsicht, und die Anerkennung war schließlich allgemein." So schildert es Theodor Ratisbonne selber. Dann aber tauchten Verdächtigungen aud. Man warf den drei Pristern vor, sie würden den irrigen Fideismus ihres Lehrers und Freundes Bautain vertreten. Sie unterwarfen sich zwar mit ihrem Lehrer Bautain in ergreifender Demut der Entscheidung des kirchlichen Lehramts, bekamen aber trotzdem den "Befehl, ohne Verzug das kleine Seminar, das Knabenseminar, zu verlassen". "Was man uns in moralischer Hinsicht vorwarf, war unser enger Freundesbund, berzüglich der Lehre machte man uns zum Vorwuf, daß wir mehr dem Glauben als der Vernunft einräumten, d.h. daß wir mit dem hl. Anselm von Canterbury bekennen: Credo, ut intelligam - Ich glaube, damit ich zur Einsicht komme."
Theodor Ratisbonne privatisierte nun in Straßburg, erteilte mit seinen Freunden an einer höheren Schule Unterricht, von 1836 bis 1840 widmete er sich noch dem intensiven Studium der Kirchenväter und der geistlichen Schriftsteller des Mittelalter und schrieb in dieser Zeit eine zweibändige Biographie des großen Marienverehrers des 12. Jahrhunderts, des hl. Bernhard von Clairvaux ("Histoire de Saint Bernard et de son siècle", 2 Bände, Paris, 1841).
Im Jahre 1840 verließ Theodor Ratisbonne Straßburg und ging nach Paris, wo er bald seinen Lieblingsplan, "an der geistigen Wiedergeburt der Juden zu arbeiten", aufnahm. Zunächst stellte er sich dem berühmten Abbé Charles Dufriche-Desgenettes(+ 1860), dem Pfarrer an der Kirche "Unserer Lieben Frau vom Siege" ("Notre-Dame des Victoires") zur Verfügung. Diesem Pfarrer war es sehr zu Herzen gegangen, daß seine mitten im Trubel der Pariser Vergnügenslokale gelegene Kirche einen ganz verschwindend geringen Zuspruch von Gläubigen hatte. Als er völlig entmutigt zum Beginn des Advents am 3. Dezember 1836 die hl. Messe feierte, vernahm er die Worte: "Weihe doch deine Pfarre dem heiligsten Herzen Mariens!" Er tat es. Von da an gelang ihm eine völlige Umwandlung der Pfarre. Der Besuch der hl. Messe hob sich in erstaunlicher Weise. Noch einen Fingerzeig von oben bekam er: Er nahm die Prägung der sogennanten "Wundertätigen Medaille", wie sie die Gottesmutter sechs Jahre vorher im Jahre 1830 im Mutterhaus der Barmherzigen Schwestern des hl. Vinzenz von Paul in der Pariser "Rue du Bac" der Novizin Katharina Labouré aufgetagen hatte, in Angriff und betrieb die Versendung dieser Medaille in alle Welt. Zugleich aber gründete er die "Bruderschaft vom heiligsten Herzen Mariä zur Bekehrung der Sünder", die bald einen ganz großen Aufschwung nahm und vom Hl. Stuhl schon am 16. Dezember 1836 bestätigt und bald schon als weltweites katholisches Werk zur Erzbruderschaft erhoben wurde. Von dieser Gnadenstätte Unserer Lieben Frau vom Siege in Paris ging in der Folgezeit ein wahrer Siegeslauf in der Ausbreitung der Verehrung des heiligsten unbefleckten Herzens Mariä aus; bis zum Jahre 1896 warne der Erzbruderschaft bereits 18.883 Bruderschaften in aller Welt angeschlossen. Auch die Verbreitung der "Wundertätigen Medaille" gelang von da aus in wenigen Jahren millionenfach.
Wen könnte es da verwundern, daß sich der 1827 getaufte, 1830 (wohlgemerkt im Jahr der Erscheinung Mariens vor der hl. Katharina Labouré) zum Priester geweihte Jude Theodor Ratisbonne ganz besonders zu dieser Pariser Gnadenstätte hingezogen fühlte, um dort für die Bekehrung seiner jüdischen Volksgenossen, vor allem auch für die seines von Haß gegen die katholische Kirche glühenden Bruders Alphons zu beten und zu arbeiten. Kaum hatte Theodor Ratisbonne als Vizedirketor der "Erzbruderschaft vom heiligsten Herzen zur Bekehung der Sünder" sein eifriges Beten, Opfern und Arbeiten aufgenommen, stellte sich bereits ein wahrhaft wunderbarer Erfolg ein, als am 20. Januar 1842 seinem Bruder Alphons in der Kirche "Sant'Andrea delle Fratte" in Rom eine völlig unerwartete Erscheinung Mariens zuteil wurde, und zwar in jener Gestalt, wie sie auf der "Wundertätigen Medaille" dargestellt ist.
Montag, Juli 03, 2006
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