Wer sieht nicht ein, daß es kein sichereres und leichteres Mittel gibt, alle mit Christus zu vereinigen, als die Verehrung Marias? Wenn in Wahrheit Maria gesagt wurde: Selig bist du, welche geglaubt, daß alles, was dir gesagt worden von dem Herrn, vollendet werden wird (Lk. 1, 45), nämlich, daß sie den Sohn Gottes empfangen und gebären würde, so folgt daraus notwendig, daß seine heilige Muter, nachdem sie so Mitbewirkerin der göttlichen Geheimnisse geworden, nach Christus, als die vornehmste Grundlage angesehen werden müsse, auf welcher der Aufbau im Glauben durch alle Jahrhunderte aufzuführen sei.
Wahrlich, niemand, der bedenkt, daß die Jungfrau einzig aus allen es gewesen, mit welcher Jesus wie ein Sohn mit seiner Mutter dreißig Jahre lang häuslichen Umgang pflegte und durch die innigste Lebensgemeinschaft verbunden war, kann daran zweifeln, daß sie, und niemand wie sie, uns den Zugang zur Kennnis Christi zu eröffnen vermag. Wer erfaßte tiefer als sie, die Mutter, das Geheimnis der Geburt und der Kindheit Christi, vor allem das Geheimnis der Menschwerdung, das der Anfang und das Fundament des Glaubens ist? Sie bewahrte und überdachte nicht bloß in ihrem Herzen die Geschehnisse in Bethlehem und im Tempel zu Jerusalem bei der Darbringung, sondern, ganz eingeweiht in die geheimen Gedanken und Absichten Christi, lebte sie wirklich das Leben ihres Sohnes. Niemand hat wie sie Christus erkannt, und deshalb ist sie auch, wie niemand anders, die rechte Wegweiserin und die Führerin zu Christus.
Deshalb besitzt auch niemand mehr Macht, die Menschen mit Christus zu vereinigen, denn diese Jungfrau. Da wir aber durch Maria zur lebenspendenden Kenntnis Christi gelangen, so werden wir auch um so leichter durch sie das Leben gewinnen, dessen Quelle und Beginn eben Christus ist.
Wie werden wir aber erst in dieser Hoffnung bestärkt, wenn wir überdenken, wieviele mächtige Gründe für Maria selbst bestehen, uns diese Gnaden zu vermitteln!
Oder ist Maria nicht die Mutter Christi? Dann ist sie aber auch unsere Mutter... Man kann mit Recht sagen: Maria trug, als sie in ihrem Schoß den Erlöser umschloß, in demselben auch alle die, deren Leben in dem Leben des Erlösers eingeschlossen war. Alle also, so viele wir mit Christus vereinigt und, nach den Worten des Apostels, Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch und von seinen Gebeinen (Eph. 5, 30) sind, wir alle sind gleichsam aus dem Schoße Marias herausgetreten als ein Leib, der mit dem Haupte vereinigt ist. Somit bleiben wir geistiger- und mystischerweise mit Recht Kinder Marias, und sie ist unser aller Mutter: Freilich Mutter dem Geiste nach, aber doch durchaus Mutter der Glieder Christi, die wir sind (S. Aug., L. de S. Virginitate c. 6). Die allerseligste Jungfrau ist also Mutter Gottes und Mutter der Menschen. - Ohne Zweifel wird sie deshalb alles aufbieten, damit Christus, das Haupt des Leibes der Kirche (Kol. 1, 18), uns als seinen Gliedern alle seine Gnadenschätze einflöße, uns allen, damit wir ihn erkennen lernen und durch ihn leben. (1 Jo. 4, 9.)
Zum Lobpreis der heiligen Gottesgebärerin gehört nun nicht bloß, daß sie dem eingeborenen Sohne Gottes einen Teil ihres Fleisches bot, um aus demselben ein Opfer zu bereiten für das Heil der Menschen. Sie stand auch neben dem Kreuz Jesu, sie, seine Mutter, und zwar nicht wie betäubt und schmerzverloren in dem Anblick des gräßlichen Schauspiels, sondern dem Geiste nach freudig bewegt, daß ihr Eingeborener für das Heil des Menschengeschlechtes zum Opfer dargebracht wurde; ja sie selbst litt mit solch lebhafter Teilnahme, daß sie, wenn dies tunlich gewesen wäre, alle Marter ihres Sohnes von Herzen gern für uns gelitten hätte (S. Bonaventura). Durch diese Teilnahme an den Leiden und der Liebe Christi verdiente Maria, daß auch sie mit Recht die Wiederherstellerin der verlorenen Menschenwelt wurde und deshalb auch zur Ausspenderin aller Gnadenschätze, die Christus durch seinen Tod und sein Blut erkaufte, eingesetzt ward.
Infolge dieser Teilnahme der Mutter an den Leiden und Bedrängnissen des Sohnes ist der hehren Jungfrau das Vorrecht geworden, daß sie bei ihrem Sohn nun die mächtige Mitttlerin und Versöhnerin der ganzen Welt ist (Pius IX. in der Bulle "Inefabilis"). Christus ist die Quelle, aus deren Fülle wir alle erhalten (Jo. 1, 16); von ihm aus wird der ganze Leib zusammengefügt und zusammengehalten durch jedes Band der Dienstleistung... und wird das Wachsen des Leibes bewerkstelligt zu Erbauung seiner selbst in Liebe (Eph. 4, 16). Weil aber Maria alles an Heiligkeit und inniger Vereinigung mit Christus übertrifft und von ihm selbst zur Vollführung des Erlösungswerkes herangezogen wurde, in der Absicht, daß sie schicklichermaßen an uns vermittle, was er von Rechts wegen verdient hat, so ist und bleibt sie die vornehmste Mitwirkerin bei der Gnadenverteilung. Er sitzt zur Rechten der Majestät im Himmel (Hebr. 1, 3), Maria aber steht als Königin zu seiner Rechten als die bewährte Schützerin und die zuverlässigste Helferin aller Gefährdeten; unter ihrer gnädigen und mächtigen Führung darf niemand fürchten, niemand verzweifeln (Pius IX. in der Bulle "Inefabilis").
Auf dieses hin kehren wir zu unserem Hauptsatz zurück. Haben wir nicht mit Fug und Recht behaupten können, daß Maria, nachdem sie so treu zu Jesus gestanden, vom Hause in Nazareth bis zum Fels von Kalvaria, und vertraut wie niemand anders mit den Geheimnissen seines Herzens war, daß sie nun auch seine Verdienste gleichsam nach Mutterrecht verwaltet? Gibt es nun einen besseren, sichereren Weg zu Christi Kenntnis und Liebe als Maria? Sind nicht ein trauriger Beweis dieser Wahrheit leider gerade jene, die, betört durch die List des bösen Feindes oder irregeführt durch falsche Vorurteile, meinen, der Hilfe der Jungfrau entbehren zu können? die Armen und Unglücklichen meinen, Maria übersehen zu müssen, um Christus die Ehre zu geben, und wissen nicht, daß das Kind nicht zu finden ist als bei Maria, seiner Mutter.
Pius X. fährt dann fort: "Fragen wir, wie doch diese Überzeugung von der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria zu jeder Zeit so in der christlichen Anschauung liegen konnte, daß sie den Gläubigen wie eingegossen und angeboren zu sein scheint? Dionysius der Kartäuser gibt uns die Erklärung mit den Worten: Abscheu und Entsetzen hält uns ab, zu sagen, daß diejenige, die den Kopf der Schlange zertreten sollte, zu irgendeiner Zeit von der Schlange zertreten wurde, und daß die, welche Mutter des Herrn sein sollte, jemals die Tochter des Teufels war (3 Sent. d. 3, q. 1). Nie und nimmer kann das christliche Volk einsehen und verstehen, wie das heilige, unbefleckte, unschuldige Fleisch Christi in dem Schoß der Jungfrau von einem Fleische genommen sein konnte, dem auch nur einen Augenblick der Sündenmakel anhaftete.
Wenn aber jemand wünscht, - und wer sollte das nicht? - die Jungfrau auf vollkommenere Art zu verehren, der muß natürlich weiter gehen und mit Ernst dahin streben, auch ihr Beispiel nachzuahmen.
Von der Liebe zu Gott gehen wir nun zu der Erwägung über, wie die Betrachtung der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau uns aufmuntern kann zur Beobachtung des Gesetzes, das Jesus mit Vorzug sein Gebot nannte, nämlich zum Gebot, daß wir einander lieben, wie er selbst uns geliebt hat. - Ein großes Zeichen, so beschreibt der Apostel Johannes das ihm gewordene Gesicht, ein großes Zeichen erschien am Himmel: Ein Weib, bekleidet mit der Sonne, der Mond zu ihren Füßen, und auf ihrem Haupte eine Krone von zwölf Sternen (Offb. 12, 1). Jeder nun weiß, daß dieses Weib niemand anders bedeutet als Maria, die als unversehrte Jungfrau Christus, unser Haupt, geboren. Und das Weib, so fährt der Apostel fort, war gesegneten Leibes, schrie in Wehen und war in Pein, zu gebären (Ebd. 12, 2). Der Apostel sah also die heilige Gottesmutter, obwohl sie bereits beseligt im Himmel war, doch an geheimnisvollen Geburtswehen leiden. Was war das doch für eine Geburt! Unsere Geburt ist es, die wir, in der irdischen Verbannung zurückgehalten, zur vollkommenen Liebe Gottes und zur ewigen Glückseligkeit noch geboren werden müssen. Ihre Geburtswehen aber bedeuten die Liebe und den Eifer, mit denen die Jungfrau auf dem Himmelsthron wacht und durch ihre fortwährende Fürbitte zu bewirken sucht, daß die Zahl der Erwählten voll werde.
Aus der marianischen Antrittsenzyklika St. Pius X. "Ad diem illum" vom 2. Februar 1904, die dem Gedächtnis der Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis (1854-1904) galt.
Sonntag, Juni 11, 2006
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen